Keine Miene verzieht Christian B. als am vierten Verhandlungstag Helge B. den Braunschweiger Gerichtssaal betritt. Helge B. ist Hauptbelastungszeuge, er behauptet der Maddie-Verdächtige habe zwei Frauen brutal vergewaltigt.
Dabei geht es am Mittwoch (3. April) nicht nur um die grausamen Tat-Details – Helge B. erzählt auch, wie der belastende Zufalls-Fund sein ganzes Leben zerstörte.
Braunschweig: „Glauben Sie, ich bin hier Statist?“
Es ist 10.21 Uhr als Helge B. den Gerichtssaal betritt. An seiner Seite ist sein Beistand Franz Obst. Helge B. wirkt sicher, lehnt sich weit in den Stuhl. Trägt eine Jeans, ein schwarzes Polo-Shirt, an seinem linken Handgelenk blitzt eine goldene Uhr hervor. Auf der rechten Seite ein goldenes Armband. Haare hat Helge B. keine mehr.
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Schon beim Verlesen der Personalien kippt die Stimmung. Wo er wohne, möchte die Richterin wissen. Doch Helge B. will darauf nicht antworten. „Ich werde meinen Wohnort nicht sagen.“ Er bleibt bei seinem Standpunkt. Der Begriff „Beugehaft“ fällt. Als sich Zeugenbeistand Franz Obst einmischt, ermahnt ihn die Richterin in scharfem Ton. Er sage jetzt nicht aus. Der Rechtsanwalt keift zurück: „Glauben Sie, ich bin hier Statist? Ich bin hier nicht zur Verschönerung des Saals.“
Als Helge B. den Grund für sein Schweigen nennt, deutet sich an, was seine Aussage gegen Christian B. mit seinem Leben gemacht hat. „Ich bin bedroht worden“, antwortet er der Richterin. Es habe Vorfälle mit den Nachbarn gegeben, Handgreiflichkeiten, nennt es Helge B. – näher will der gelernte Dachdecker darauf nicht eingehen. Mehrere Male sei er schon umgezogen. Sein Leben ist seit 2006 ein anderes. 2006 habe er im Haus von Christian B. Video-Kassetten gefunden. Darauf zu sehen: Angeblich der Angeklagte, wie er eine ältere Dame und ein junges Mädchen brutal vergewaltigt hat.
Zufalls-Fund bei Einbruch
Zuvor lernte der 53-Jährige den Maddie-Verdächtigen über die gemeinsamen Freunde Michael T. und Manfred S. in Portugal kennen. So richtig verstanden, hätten sich die beiden nie. Während Michael T. und Christian B. in Portugal im Gefängnis saßen, sollen Manfred S. und Helge B. dann irgendwann beschlossen haben, bei dem Maddie-Verdächtigen ins Haus einzubrechen. Abgesehen, hatten es die beiden dabei auf Diesel, den Christian B. vorher selbst gestohlen hatte.
Ungefähr 300 Liter sollen die beiden bei dem Einbruch abgezapft haben. Außerdem klaute Helge B. einen Opel, ein Dietrich-Set – und zwei Kameras sowie diverse Video-Kassetten. „Das bereue ich bis heute“, sagt er irgendwann auf die Frage, warum man so etwas klaue. Ein Zufalls-Fund, den er aus Neugier mitgenommen habe. Was Helge B. auf den Videos sieht, verfolge ihn seit 18 Jahren.
Hauptzeuge packt über Schock-Videos aus
Der Zeuge behauptet auf einer Aufnahme eine „Oma“ zu sehen. Zwischen 70 und 80 Jahre alt müsse sie gewesen sein. Die Kamera habe furchtbare Szenen festgehalten. Ein zunächst maskierter Mann in Leggings und engem Pulli hätte die Frau in einem „typischen Touri-Zimmer“ gefesselt, ausgepeitscht und dann vergewaltigt. Die Frau hatte während der ganzen Tat eine Taucherbrille auf, deren Gläser mit grauer Farbe beschmiert gewesen sei. Die Brille habe Helge B. bei den Video-Kassetten ebenfalls gefunden.
Zwischendurch habe das Opfer den Täter als „fucking bustard und „asshole“ beschimpft. Helge B. sei sich deshalb sicher gewesen, dass sie keinen Sex wollte. Irgendwann habe der Mann dann seine schwarze Sturmhaube abgesetzt – er hätte seinen Augen kaum trauen können. „Ich war schon ziemlich überrascht, als ich Christian sah“, erklärt Helge B. weiter. Das Video ende wohl mit dem Angeklagten, der der alten Frau ein Kissen aufs Gesicht gedrückt haben soll. Was danach passiert ist? „Das weiß ich nicht.“
Auf der zweiten Kassette sieht Helge B. ein junges Mädchen mit schwarzem, langen Haar. Sie sei an einen Baumstamm gefesselt gewesen, der sich im Haus Christian B. befunden haben soll. Das zwischen 14 und 16 Jahre alte Mädchen sei auf dem Rücken gefesselt und die ganze Zeit sei sie nackt gewesen. „Hey Christian, du weißt, was das hier ist. Das ist eine Vergewaltigung“, habe sie gesagt. Danach soll Helge B. das Video ausgemacht haben. Mehr wollte er nicht sehen.
„Ich habe erst gedacht, dass das ein Snuff-Video ist“
Ungläubig habe Helge B. immer wieder seinen Freund Manfred S. aufgefordert, sich die Aufnahmen anzuschauen. Doch schon nach wenigen Minuten habe der Freund abgewunken. „Auf sowas habe ich keinen Bock“, soll Manfred S. gesagt haben. Für Helge B. ist das angeblich Gesehene eine riesige Last.
„Mir hat das schwer im Magen gelegen. Ich dachte erst, dass das ein Snuff-Video ist“, sagt er am Mittwoch aus. Bei solchen Filmen handelt es sich um Aufnahmen, die vermeintlich reale Gewalttaten oder Morde zeigen – diese sind aber gestellt und dienen nur der Unterhaltung. „Als ich dann Christian gesehen habe, habe ich gedacht, dass das auf keinen Fall sein kann.“
Zeuge lassen Schock-Videos nicht mehr in Ruhe
Helge B. lassen die Aufnahmen nicht mehr in Ruhe, wie er erzählt. Bei einer englischen Bar-Besitzerin in Portugal habe er sich Rat einholen wollen. Wie solle er das Gesehene bewerten, er habe ihr angeblich die Videos gezeigt. Die Frau soll dazu nichts gesagt haben.
Anderen Freunden habe er zumindest von den Videos erzählt und von den grausamen Taten, die Christian B. begangen haben soll. Bis heute sind die Videos verschwunden. Trotz allem ging Helge B. lange Zeit nicht zur Polizei. „Ich bin kein Unschuldslamm“, erklärt er. Selbst bezeichnet er sich als „Kleinkrimineller“, in Griechenland verurteilte man ihn zu über sieben Jahren Haft. Nicht alles saß er ab.
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Er dealte mit Drogen, klaute Solaranlagen. Aus Angst sich selber zu belasten, schwieg Helge B. lange Zeit. Doch 2008 habe sich bereits das erste Mal an Scotland Yard gewandt – im Fall Maddie McCann. 2017 sprach er dann mit dem Metropolitan Police Service. Drei Tage habe man ihn vernommen. Doch kurz danach sei herausgekommen, wo Helge B. lebte. Ein Journalist habe einen Polizisten geschmiert. Seither vertraue er niemandem mehr. „Ich habe mir in Korsika mein Leben aufgebaut“, macht er deutlich. Doch seine Aussage hatte unerwartet weitreichende Folgen.
„Ich habe keine Freunde mehr, kaum noch Kontakt zur Familie.“ Helge B. habe seinen Job verloren, seine Wohnung, einfach alles. „Meine Personenschützer sind meine Freunde“, sagt er weiter. „Ich wüsste nicht, ob ich mich nochmal an die Polizei wenden würde. Ich denke eher nicht“, antwortet Helge B. auf die Frage der Oberstaatsanwältin. „Das ist traurig, ich kann mich nur entschuldigen“, entgegnet sie daraufhin.