Wolfsburg/München.
Wer hoch fliegt, kann auch tief fallen. Das gilt auch für VW-Chefs.
Er war einer der prägendsten und erfolgreichsten Bosse von VW – bis das „Dieselgate“ Martin Winterkorn aus dem Amt fegte. Und auch beim VW-Betrugsprozess in Braunschweig muss er erstmal nicht dabei sein…
VW: Auf einmal war Schluss
Wer hätte gedacht, dass diese steile Karriere einmal so enden würde? Nach Jahren immer höherer Gewinne, nach Jahren als bestbezahlter deutscher Topmanager, nach Jahren der Ehrfurcht vor seinem technischen Wissen und unternehmerischen Erfolg war für Martin Winterkorn als Volkswagen-Chef am 23. September 2015 schlagartig Schluss.
Fünf Tage vorher hatte die US-Umweltbehörde eine Bombe platzen lassen: Sein Konzern habe eine Software eingesetzt, um Messungen des Schadstoffausstoßes bei Dieselautos zu manipulieren.
Bald stand fest, dass der betrügerische Code in Millionen von Wagen steckte. Bis heute ist unklar, wer im Konzern bis hin zu dessen Spitze wann genau was wozu wusste. Für Winterkorn, der am am Dienstag, 24. Mai, 75 Jahre alt wird, bedeutete es bei VW aber bereits mit sofortiger Wirkung das Aus. Damals völlig unerwartet.
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VW: Platz auf Anklagebank bleibt leer
Er habe zu akzeptieren, dass sein „Name verbunden ist mit der sogenannten Dieselaffäre“, sagte er später. Als Eingeständnis einer Mitschuld am Abgasskandal wollte der lange als unantastbar geltende Lenker des größten deutschen Unternehmens das allerdings keinesfalls verstanden wissen. Und beinahe sieben Jahre danach will – oder kann – Winterkorn zur Aufklärung von „Dieselgate“ weiter wenig beitragen.
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Jedenfalls nicht öffentlich, nicht im Gerichtssaal. Ein medizinisches Gutachten erspart es ihm bisher, beim ersten großen Strafprozess in Braunschweig persönlich erscheinen zu müssen. Die Anklage in dem Verfahren, das seit September 2021 gegen vier andere Ex-VW-Manager sowie -Ingenieure läuft, lautet auf gewerbs- und bandenmäßigen Betrug mit dem Täuschungsprogramm. Dessen Funktion sei es gewesen, VW-Diesel nur auf dem Prüfstand den Abgasstrom vollständig reinigen zu lassen.
VW-Prozess ohne Winterkorn „eine Katastrophe“?
Seine Abwesenheit stößt Kritikern der Autoindustrie wie Prozessteilnehmern gleichermaßen sauer auf. „Die Botschaft, hier zu sitzen ohne Herrn Winterkorn, ist eine Katastrophe“, sagte ein Anwalt der übrigen Vier, die in Runde eins am Landgericht antreten mussten.
„Sich der Verantwortung für das eigene Handeln zu stellen, sieht anders aus“, meinte ein Verteidiger-Kollege. Die Staatsanwaltschaft will Winterkorn ebenso rasch auf der Anklagebank Platz nehmen sehen.
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VW: Der Sturz des „Mr. Volkswagen“
Der Ex-Chef musste sich drei Hüft-OPs unterziehen. Die Folgen der Eingriffe führten zum Gutachten, das fehlende Verhandlungsfähigkeit attestierte – für den Vorsitzenden Christian Schütz die Basis, das Verfahren abzutrennen. Dass Winterkorn langwierige Reha-Maßnahmen durchlaufen muss, bestreiten viele der Beteiligten auch nicht. Aber deswegen seinen Part auf unbestimmte Zeit aussetzen? Wird er überhaupt noch vor dem Richter erscheinen?
Kaum ein Topmanager ist binnen so kurzer Zeit so tief gestürzt. „Mr. Volkswagen“ sonnte sich in den Erfolgen einer Rekordjagd, die während seiner fast neun Jahre an der Spitze der größten europäischen Autogruppe kein Ende zu nehmen schien. In einem Abschiedsvideo an die Belegschaft war Winterkorn sichtlich angefasst. Es komme „alles auf den Tisch – so schnell, gründlich und transparent wie möglich“.
VW: Winterkorn & Co. zahlen „Schadenersatz“
Durch einen intern ausgehandelten Vergleich erhielt VW vom Ex-Chef, drei weiteren Führungskräften und größtenteils Haftpflichtversicherern 288 Millionen Euro Schadenersatz – angesichts der „Dieselgate“-Kosten von weit über 30 Milliarden Euro eine symbolische Summe.
2017 haderte Winterkorn im Bundestags-Untersuchungsausschuss halb trotzig, halb demütig: „Wie konnte so etwas passieren?“ Er beteuerte, vor dem Bekanntwerden des Skandals nichts von illegalem Tun gewusst zu haben.
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VW auf Rekordjagd – bis zum Diesel-Crash
„Wiko“ – wie er vom Bandarbeiter bis zum Vorstandskollegen genannt wurde – war ein Star der Wirtschaftselite, mit Jahresgehältern von bis zu 17 Millionen Euro und einer Rente von 3.100 Euro pro Tag. Die Belegschaft ließ aber meist nichts auf ihren Chef kommen. Er pflegte einen engen Draht zum Betriebsrat, war unabhängig vom Zittern vieler Ingenieure und Designer vor seinem Urteil insgesamt hoch anerkannt.
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Der Workaholic steht um 5 Uhr auf, nach zig Besprechungen gibt er grünes Licht für ein neues Modell, mittags zum Test nach Schweden, abends zum nächsten USA- oder China-Termin. So sahen Arbeitstage aus.
Der Fußball-Fan stammt aus einfachen Verhältnissen. Als Sohn eines Arbeiters und einer Hausfrau wurde Winterkorn 1947 in Leonberg bei Stuttgart geboren. Nach Physikstudium und Promotion begann seine Laufbahn 1977 bei Bosch. Vier Jahre darauf ging er zu Audi, wo er früh im Dunstkreis des späteren VW-Vorstands- und -Aufsichtsratschefs Ferdinand Piëch arbeitete, ab 1988 als Leiter der Qualitätssicherung. 2002 wurde Winterkorn Audi-Chef, 2007 gelangte er an die VW-Spitze.
VW: Workaholic Winterkorn – „Da scheppert nix“
In Wolfsburg baute der zweifache Vater den Konzern zum Konglomerat mit zwölf Marken aus. Manche Aktionen waren legendär. „Da scheppert nix“, befand er 2011 auf der IAA über die Lenkradverstellung eines Hyundai, an der er am Stand des südkoreanischen Konkurrenten detailversessen rüttelte.
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Die VW-Chefs (1948 – 2022):
- Herbert Diess (seit 2018)
- Matthias Müller (2015 – 2018)
- Martin Winterkorn (2007 – 2015)
- Bernd Pischetsrieder (2002 – 2006)
- Ferdinand Piëch (1993 – 2002)
- Carl Hahn (1982 – 1992)
- Toni Schmücker (1975 – 1981)
- Rudolf Leiding (1971 – 1975)
- Kurt Lotz (1968 – 1971)
- Heinrich Nordhoff (1948 – 1968)
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Das überraschende Zerwürfnis mit Intimus Piëch wurmte ihn dann sehr. Der Oberkontrolleur habe die Visionen, „und ich garantiere, dass die Autos funktionieren“, beschrieb Winterkorn die Rollenverteilung. Doch Anfang 2015 kam es nach einer bis dato undenkbaren Interview-Äußerung des Ziehvaters („Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“) zum Bruch. Nur einige Monate danach folgte das Diesel-Desaster.
VW-Prozess: Das Warten geht weiter
Winterkorn lebt zurückgezogen in München. Ob er in kürzerer Frist zum Braunschweiger Verfahren stößt? Das ist wohl eher unwahrscheinlich, ist zu hören. Inzwischen erging von höherer Instanz aber ein Auftrag an das Landgericht, die Einstellung eines parallelen Strafverfahrens wegen Marktmanipulation im Abgasskandal nachträglich zu überprüfen.
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So oder so: Das Verhältnis des Konzerns und vieler Beschäftigter zu Winterkorn bleibt gespalten. Auch die Leistungen des einstigen Chefs dürften nicht vergessen werden, heißt es. Unter ihm entstanden über 140.000 Jobs, Umsatz und Ergebnis verdoppelten sich. Etliche Modelle, an denen der Autobauer heute noch trotz Corona, Ukraine-Kriegs und Chipkrise gut verdient, fielen in die Planung der Ära Winterkorn.
Zumindest insofern hat ein Satz aus seiner Abschiedsbotschaft eine gewisse Gültigkeit: „Volkswagen war, ist und bleibt mein Leben.“ (dpa/ck)